Von Martin Fiß

»Du glaubst also, dass ich das nicht schaffen würde?«
»Was? Einen Marathon zu laufen?« Simone fing an zu lachen. »Sei mir nicht böse …! Aber ich fände es schon grundsätzlich gut, wenn du mit dem Joggen anfangen würdest. Das habe ich dir ja schon mehrfach angeraten. Das macht Spaß. Habe ich früher jeden Morgen vor der Arbeit …« 
Ja, die Geschichte kannte ich. Zur Genüge. Warum müssen Frauen eigentlich immer alles mehrfach erzählen? Um die Wichtigkeit des Erzählten zu unterstreichen? Oder weil wir Männer zu oft abschalten, nicht zuhören und Themen abseits des eigenen Interesses bestenfalls im Kurzzeitgedächtnis halten?

Der Dicke schafft das also nicht… ich werde es dir zeigen. Mein Ehrgeiz war geweckt. Gleich am nächsten Morgen wollte ich anfangen.

Es dauerte dann doch noch knapp zwei Wochen, bis ich meine No-Name-Sportschuhe mit zwei Streifen vom örtlichen Discounter anzog und mich vor die Tür wagte.

Okay, nur nicht direkt überpowern. Lieber mit einer kleinen Strecke anfangen. So 2-3 Kilometer. Da laufe ich am besten mal die Straße hoch bis Mannis Kiosk, das müssten so ca. 500 Meter sein, dann rechts weiter bis zur Bäckerei – das sind weitere 800 Meter, dann wieder rechts bis zur Einfahrt vom Supermarkt, über den Parkplatz und quer übers Feld bis nach Hause.

Bei Manni war Schluss.

In den Folgetagen, Wochen und Monaten versuchte ich immer wieder mal, meine Distanz zu erhöhen. Ich konnte und wollte ein Scheitern nicht akzeptieren. Steter Tropfen… und so wurde meine Fitness langsam besser. In meiner Heimatstadt Mülheim gab es zu dieser Zeit noch den alljährlich stattfindenen Tengelmannlauf. Das war ein Volkslauf, gesponsert und organisiert von der ortsansässigen Tengelmanngruppe. Start und Ziel waren in der Nähe des gleichnamigen Supermarktes in Speldorf. Der Tag war gekommen, an dem ich mich stark genug fühlte, am 10 km Lauf dieses Wettbewerbs teilzunehmen.

Nach 1 Stunde und 15 Minuten erreichte ich glücklich das Ziel. Glorreich war das nicht, denn ich war einer der letzten Finisher. Die Ordnungskräfte hatten schon mit dem Abbau der Streckenabsperrung begonnen. Dennoch gab mir der Zieleinlauf das trügerische Gefühl, etwas Großes erreicht zu haben. Als auch der nächste Versuch mit 1 Stunde und 11 Minuten kaum besser war wurde mir klar, dass ich das auf Sicht professioneller angehen müsste.

Es war ein verregneter Samstag im November, als ich mich mit zwölf Gleichgesinnten zu einer Informationsveranstaltung bei Laufsport Biller in Essen einfand.

»Hallo, ich bin der Sven.«
Alles klar, unter Sportlern duzt man sich von Anfang an. Egal welches Alter man hat. Allerdings sahen bei weitem nicht alle Anwesenden wie Sportler aus. Meine Person eingeschlossen. Nun, wir wollten aber gerne Sportler sein.

Sven referierte über richtige Ernährung – als ob ich das nötig hätte – gesundheitliche Aspekte, kontrolliertes Training, vernünftige Sportkleidung und vor Allem: Geeignetes Schuhwerk.
Das Ende der zwei-Streifen-Ära war damit eingeläutet.

Zunächst würden wir alle einen Laktattest machen, wenn wir uns denn anmelden.

Ja klar, dies wollte ich sowieso. Mein Wunsch war es, beim nächsten offiziellen 10 km Lauf endlich unter 60 Minuten zu bleiben und meine Frau damit zu überraschen.

Die ausliegenden Zettel zur Anmeldung waren schnell vergriffen. In einem günstigen Augenblick nahm ich ein Set von der Verkaufstheke, das scheinbar herrenlos dort herumlag. Kurze Zeit später hörte ich den blonden Heiopei, der mir schon während der Präsentation wegen seiner dauernden, klugscheisserischen Zwischenfragen gehörig auf die Eier ging, wie er sagte: »Irgendjemand hat mir meine Anmeldezettel weggenommen.«
Heul doch, du Blödmann. Ich verhielt mich still und tat völlig unbeteiligt. Mir war natürlich klar, dass ich derjenige war, der dem Heiopei die Zettel stahl. Mir doch egal. Hauptsache, ich konnte meine eigene Anmeldung durchziehen.

Die Veranstaltung ging zu Ende, der Weg zum Profiläufer war geebnet. Aufgeregt erwartete ich den Beginn des Trainings.

Der obligatorische Laktattest fand am Halo in Essen statt. Einer Sportanlage mit einer ordentlichen Tartanbahn. Der Parkplatz lag etwas versteckt, doch da ich ausreichend viel Zeit eingeplant hatte, war ich rechtzeitig vor Ort.

Dieser (Leistungs-)Test erfolgt in regelmäßigen Abständen und je nach gebuchtem Kurs oder Abo bis zu 4 x im Jahr. Was in Gottes Namen ist ein Laktattest? Das fragte ich mich schon, als ich auf der Informationsveranstaltung davon hörte. Wenn ich auch nicht wusste, was genau hinter einem Laktattest steckt, so war mir doch klar, dass er mich persönlich betraf und überdies Anstrengung für meinen Körper bedeuten würde. Da machte es Sinn, sich vorher ein wenig über den Umfang der Anstrengung zu informieren.  

Wozu gibt es das Internet? Nach meiner Rückkehr an besagtem Informationsabend googelte ich erst einmal und wurde ausgerechnet auf einer Sportinformationsseite der Bravo fündig. Der gute Dr. Sommer hatte augenscheinlich mir bislang unbekannte und auf anderen Fachgebieten kompetente Kollegen. Jetzt war ich gewappnet, konnte mitreden und musste nicht wie Hein Blöd dastehen.
Es wäre nicht das erste Mal, denn wie oft schon stand ich in einer Gesprächsrunde und hatte vom diskutierten Thema nicht den blassesten Schimmer. Es erforderte stets ein bisschen Geschick, um nicht aufzufallen. Hin und wieder zustimmend mit dem Kopf nicken, begleitet von den Worten:
»Ja, sehe ich auch so.« Das funktionierte eigentlich immer. Problematisch konnte es nur werden, wenn man gezielt gefragt wurde. Meistens ließ sich aber auch diese Hürde meistern, in dem man sich in Floskeln wie: »Was soll ich dazu sagen?« »Sorry, bin gerade ganz woanders.« oder »Was denkst du?« flüchtete.

Laktat ist also ein Salz der Milchsäure. Es entsteht als Stoffwechselprodukt in den Muskeln, wenn der Körper Energie bereitstellt. Wo bekommt der Körper die Energie her? Wenn ich langsam um den Sportplatz trabe, reicht der über die Atmung aufgenommene Sauerstoff aus. 

Man spricht von „aerober Belastung.“ Je höher die Belastung wird, desto mehr Energie müssen sich die Muskeln aus anderen Quellen besorgen, da der aufgenommene Sauerstoff nicht mehr ausreicht. Dann wird Glucose abgebaut, in Folge dieses Abbaus entsteht unter anderem Laktat. Bei der Belastung wird Laktat aber auch wieder abgebaut. Das ist wichtig für den Test.

Schon nach wenigen Minuten bereute ich meine Teilnahme am Test, denn drei Tempowechsel reichten, um auf dem letzten Loch zu pfeifen. »Lass‘ gut sein, Martin.«
Svens Blick gab mir das klare Signal, dass ein harter Weg vor mir liegen würde. Wenige Tage später wurde mir das in Form der vernichtenden, schriftlichen Auswertung dann auch schwarz auf weiß präsentiert: UNTRAINIERT. Als wenn ich das nicht auch ohne Test gewusst hätte.

Am ersten Montag im Dezember ging es dann endlich richtig los. Das erste gemeinschaftliche Training unter professioneller Anleitung. Sven und sein Kompagnon Roman begrüßten uns und stimmten uns mit warmen Worten auf die nächsten 16 Wochen ein. Wir wurden – beruhend auf den Ergebnissen des Laktattestes – in Gruppen unterschiedlicher Leistungsstärke eingeteilt.

Sigrid war meine erste Trainerin. Sie war etwas jünger als ich, schlank, groß und sah schon sehr sportlich aus. Wie nicht anders zu erwarten, fand ich mich in der schwächsten Gruppe wieder.
Aus heutiger Sicht war das damalige Training Pipifax, damals jedoch forderte es meine gesamten, vorhandenen Kräfte.

Ein paar Koordinationsübungen, leichter Dauerlauf, ein bisschen Gymnastik. Der Muskelkater am nächsten Morgen war so überwältigend, wie das Gefühl am Abend zuvor, dass Training überlebt zu haben.

Mit schweren Beinen schleppte ich mich auf die Waage im Badezimmer. Die ganze Anstrengung musste sich doch in dem Verlust von 2-3 gefühlten Kilogramm widerspiegeln. »Sie wiegen 90,5 kg«, schrie mir die Waage entgegen.
»Halt die Klappe, das muss doch keiner wissen!«, fauchte ich dieses Wunderwerk der Technik an.
Für mich war klar, dass es sich um eine Fehlmessung handelte.
Bestimmt die schwächelnde Batterie oder der unebene Boden…
Beim Zähneputzen erinnerte ich mich dann an die vorabendliche Belohnung für die erlittenen Strapazen des Trainings in Form von zwei Fläschchen Bier, einer Tafel Schokolade und einem Schälchen Chips.

»Martin, so geht es nicht weiter. Die Schmerzgrenze ist überschritten.«
Ich fasste den Entschluss, alle Naschereien auf ein Minimum zu reduzieren, wenn nicht gänzlich aufzugeben. Früher konnte ich alles in mich hineinschieben, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Spargeltarzan, Hungerhaken und Fieseler Storch (obgleich mir diese Assoziation mit einem Flugzeug der deutschen Wehrmacht bis heute nicht ganz schlüssig ist) waren die gängigsten Betitelungen meiner Person, als ich noch ein Kind und Heranwachsender war.
Meine ausgeprägten Segelohren kamen an dem dürren Körper zur besonderen Geltung und verleiteten den einen oder anderen allerdings auch zu etwas gehässigeren Bemerkungen wie:
»Halt dich fest, sonst hebst du ab!«, wenn der Wind mal ein bisschen stärker blies.

Mein Handy klingelte und zeigte im Display den Namen: »Marcie Föhre.« …

 

Marcie Föhre? Die kam doch schon vor. War das nicht die mit den dicken…
Ach ne, ich glaube das war die damalige Sportlehrerin – oder warte mal, ne, ne, Marcie war doch die, die ganz am Anfang des Buches mit den anderen Probanden in New York bei dem Marathon…
Verdammt. Es nützt nichts.
Jetzt muss ich doch tatsächlich noch mal im ersten Kapitel nachlesen.

 

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